Borderline-Persönlichkeitsstörung

  1.  Borderline-Persönlichkeitsstörung
  2. Diagnose und Therapie
  3. Entstehung nach M. Linehan und M. Bohus
  4. Entstehung nach Daniel N. Stern
  5. Bedeutung der frühen Mutter-Kind-Beziehung
  6. Borderline-Eltern
  7. Neurobiologische Erklärung
  8. Literatur

5. Entstehung der Borderline-Störung aus einer frühen Störung der Mutter-Kind-Beziehung

 Im Folgenden will ich einige psychoanalytisch oder tiefenpsychologisch geprägte Theorien erwähnen, deren Inhalte für mich überzeugend sind, weil ich in meinen Therapien zu ähnlichen Beobachtungen gelangt bin.

Psychotherapeuten wie u.a. Masud R. Khan und Andree Green datieren den Beginn der Störung um das zweite bis dritte Lebensjahr, also in dem Zeitraum der Entwicklung, in dem sich das Kind in der Phase der Loslösung und Individuation befindet. So reagieren Borderline-Mütter auf die Verselbständigkeitsversuche ihrer Kinder mit Rückzug bis hin zu Feindseligkeit, weil sie die beginnende Autonomie als Bedrohung empfinden und an ihre eigenen (negativen) Kindheitserfahrungen mit ihren Eltern erinnert werden.

Von Donald Winnicott und Ronald D. Laing u.a. wird die Mutter weniger klammernd-schwach charakterisiert, sondern eher als "eindringend" oder "beherrschend präsent". Das Kind muss hier seine eigenen Motivationen aufgeben. Es passt sich an, indem es seine Bedürfnisse nicht mehr zum Ausdruck bringt. So entsteht ein "falsches Selbst" und die Dissoziation vom "wahren Selbst". Die Mütter wurden als intelligent und überfütternd beschrieben. Weiterhin seien es Mütter, die ihre Ängste und emotionale Verarmung ihrer Persönlichkeit hinter einer pseudo-gebenden Haltung erfolgreich verbargen. Diese Haltung verbindet sich mit einer strengen und fast grausamen, oft nicht ausgesprochenen Forderung, dass das Kind ganz nach ihren Vorstellungen und Erwartungen heranwachsen soll.

Nach Margaret Mahler ist die Borderline-Störung das Ergebnis einer Störung im Prozess von Loslösung und Individuation speziell während der Phase der Wiederannäherung. Die Wiederannäherung an die Mutter kann Misslingen, wenn das Kind seine optimale Nähe zur Mutter nicht finden kann. Es kann geschehen, dass es gebremst durch die Angst vor Wiederverschlingen, also dem Verlust der gerade gewonnen Individuation, sich zu rückhaltlos der Mutter wieder zuwendet und mit ihr erneut symbiotisch verschmilzt. So wird das Kind hin- und hergerissen zwischen Trennungsangst, Sicherheitsstreben und Angst vor Wiederverschlingung (Auflösung der erreichten Individuation). Für das Gelingen dieses Prozesses ist auch von Bedeutung, ob die Mutter in der Lage ist, ihr Kind sowohl in der Phase der Entfernung als auch in der Phase der Wiederannäherung gleichermaßen zu lieben und zu fördern. Wenn das Kind die Mutter bei dem Wiederannäherungsversuch gar nicht oder emotional verändert vorfindet, erlebt dies das Kind als gefährlich und verliert damit die basale Rückendeckung, ohne die ein angstfreies Pendeln zwischen der Mutter und der Welt der Objekte unmöglich ist. Laut Mahler reagiert das Kind beim Misslingen der Wiederannäherung mit übermäßiger Aggression und Abwendung oder sadomasochistischer Verklammerung mit der Mutter. Je größer der Hass und die Enttäuschung an der realen Mutter, desto mehr hält es am Bild einer nur guten, spendenden, symbiotischen Mutter fest, die es verloren (nie gefunden) hat und nach der es in dauerndem, sehnsuchtsvollen Streben sucht.

Die Borderline-Patienten richten sich mit ihren übermäßigen Aggressionen gegen die "böse Mutter der Trennung", welche das Erleben des Fallengelassenseins und des Verbanntseins verkörpert. Die Mutter wird zum einen in die böse und zum anderen idealisierend in die wunscherfüllende Mutter aufgespalten. Das Kind und später der Erwachsene bleiben zur Sehnsucht verurteilt. Die realen Objektbeziehungen des häufig liebesunfähigen Borderline-Patienten bleiben dünn, oberflächlich und emotional starr, weil er an dieser Entwicklungsposition stecken geblieben ist. So beschreibt Christa Rohde-Dachser: "Die Folge ist eine Fixierung an die Erlebensweisen dieser Phase, ein Steckenbleiben auf halbem Wege zwischen werbender Wiederannäherung an ein geliebtes Objekt und der enttäuschten Abwendung von ihm." Für Mahler gehören Borderline-Patienten "zu den Patienten, die die ewige Sehnsucht des Menschen nach der guten symbiotischen Mutter sowohl demonstrieren als auch unbewusst agieren, wie um sich anzuklammern, mit ihr vereint, bei ihr sicher zu sein." Die Spaltung der beiden gegensätzlichen Bilder werden vom Patienten aufrechterhalten und prägen seine späteren Beziehungen. Die Patienten, die ewig auf der Suche nach dem oder der Richtigen sind, tun das ihre, um die Trennung selber herbeizuführen, aus Angst wiederverschlungen oder verlassen zu werden und damit die Kontrolle zu behalten.

Von meinem verhaltenstherapeutischen Standpunkt aus kann ich nicht alle Einzelheiten der Theorie von O. Kernberg nachvollziehen. Er geht von der Annahme aus, dass frühe orale Traumata, die er nicht weiter spezifiziert, im Kinde eine exzessive Enttäuschungsaggression auslösen, welche das Kind im Rahmen seiner momentanen Entwicklungsphase anscheinend nicht bewältigen kann: "Wegen des ungeheuren Drucks der prägenitalen Aggression" kommt es zu einem vorschnellen Durchlauf der prägenitalen Entwicklungsphasen (Flucht nach vorne) und damit zu einer frühzeitigen Aktualisierung des Ödipuskonfliktes. Dieser wird aufgrund der Verdichtung prägenitaler und genitaler Konflikte nicht gelöst."

Trotz der Unterschiede sind sich aber viele der Autoren darin einig, dass der Fixierungspunkt in dem zweiten und dritten Lebensjahr liegt, in dem das Kind die Mutter deutlich als ein von sich getrenntes Objekt wahrnimmt und in dem seine Autonomiebestrebungen seinen Höhepunkt erreichen. Misslingt die Phase aus oben genannten Gründen, erleben dies Borderline-Patienten als Beschneidung, Verweigerung und Unmöglichkeit der eigenen Autonomie. Sie machen die Erfahrung, als eigenständiges Individuum mit eigenen Wünschen und Bedürfnissen nicht existieren zu können oder zu dürfen. Für das Kind verbindet sich die Erfahrung der Unmöglichkeit der eigenen Individualität mit dem subjektiven Erleben, dass die eigenen Wünsche und Bedürfnisse und seine Liebesobjekte eine so zerstörerische Qualität besitzen, dass sie verdrängt beziehungsweise gemieden werden müssen.

Daraus ergibt sich, dass die Individuen Angst vor ihren eigenen Gefühlen, Impulsen und Bedürfnissen haben und sich fragen:

Darf und kann ich sein?

Statt "ich will" heißt es für die Patienten oft "ich muss", und sie drücken damit ihr Gefühl der Fremdbestimmung aus.

Betroffene beschreiben ihre Identitätsstörung etwa so:

"Ich kann mir mein eigenes ‚Ich' nicht glauben. Ich möchte das endlich sein können. Aber spätestens, sobald ein anderer Mensch da ist, verlier´ ich die Verbindung zu mir. Als ob die geballte Gegenwart eines anderen Menschen dieses ‚Ich' sofort sich auflösen oder zurückziehen lässt. Und dann habe ich wieder nur das Gefühl zu spielen, getrennt zu sein, riesige Distanzen und Wände durchdringen zu müssen- und der andere ist irgendwie eine Übermacht.

Warum kann ich mir nicht trauen, glauben? Warum weiß ich nie, was echt ist, was wahr ist? Ständig ist es so, als wäre ich lauter verschiedene ‚Ichs'. Oder mehrere in mir... aber keines ist wirklich. Weil vieles, was ich mir vorstelle, was ich vielleicht tun möchte, nur in der Fantasie besteht. Oft, während ich alleine bin, bin ich ständig mit solchen Gedanken beschäftigt,... um eigentlich eine Leere zu verbergen.

Ich lebe so, als müsste ich ständig mein eigenes Dasein, meine Stabilität, neu erschaffen oder aufrechterhalten, neu ausdenken. Wie wenn man einen Damm, der laufend umspült und abgetragen wird, ständig aufrechterhalten, absichern muss."

Und das Gefühl fehlender Autonomie drücken Betroffene wie folgt aus:

"Kein ‚Kern-Ich'; lauter andere, die mein Gehirn benutzen; kein Zugriff auf irgendwelche Fähigkeiten; aufgesplittet; bin ich ohne ein menschliches Gegenüber (in der Fantasie), auch selbst nicht da. Eigentlich fühle ich mich ständig von innen und von außen bedroht."

Literatur:

  • Rohde-Dachser, C.: Das Borderline-Syndrom. Bern, Stgt. Wien, 1991

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