Dissoziative Störungen

  1. Was sind dissoziative Zustände?
  2. Neueste Ansätze: Somatische Beschwerden als dissoziative Störung?
  3. Behandlung von dissoziativen Störungen
  4. Literatur

1. Was sind dissoziative Zustände?

"Weggetretensein", "nicht man selbst sein", "neben sich stehen" oder "sich losgelöst fühlen" - solche bekannte Redewendungen beziehen sich auf Zustände, die jeder manchmal erlebt. Zum Beispiel, wenn wir uns stark konzentrieren wie beim Sehen eines interessanten Filmes oder routinemäßig handeln, etwa beim Autofahren: dann vergessen wir alles andere um uns herum. Alle Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen, die wir sonst gleichzeitig und stimmig erleben, sind sekundenlang voneinander getrennt. Dieser Vorgang heißt "dissoziativ". Das Spektrum an dissoziativen Zuständen ist breit und reicht von harmlosen Alltagserscheinungen bis hin zu krankhaften Formen, die als "dissoziative Störungen" beschrieben werden. Sie beinhalten einen Verlust der psychischen Fähigkeit, das gesamte Erleben und Handeln miteinander in Verbindung zu bringen. Die Betroffenen empfinden nicht mehr die Ganzheitlichkeit der eigenen Person. Dissoziative Symptome können auch mit anderen psychischen Störungen wie Phobie, Depression, Schizophrenie oder Borderline-Persönlichkeitsstörung auftreten.

Für dissoziative Phänome und Symptome wurde bis ins 20. Jahrhundert hinein der Begriff "Hysterie" gebraucht. Heute ist dies veraltet und gilt als stigmatisierend.

"Dissoziative Störungen" werden als Oberbegriff für sehr unterschiedliche Krankheitsbilder verwendet, die isoliert oder kombiniert vorkommen:

Bei der "dissoziativen Amnesie" handelt es sich um Erinnerungslücken an bestimmte Lebensereignisse oder Lebensphasen. Bei der "dissoziative Fugue" entfernen sich die Betroffenen plötzlich und unerwartet aus der gewohnten Umgebung, können sich aber später nicht mehr daran erinnern. Im Zustand des "dissoziativen Stupor" bewegen sich die Betroffenen kaum oder gar nicht mehr. Sie sprechen fast nicht, sind völlig inaktiv, reagieren nicht mehr, essen und trinken nicht. Von "Depersonalisation" ist die Rede, wenn das eigene Selbst als verändert, entfremdet und unwirklich wahrgenommen wird. Das eigene Tun erscheint automatenhaft. Bei der "Derealisation" wird die Umwelt als unwirklich und fremd wahrgenommen. Bei "dissoziativen Krampfanfällen" können Pseudo-epileptische Anfälle, Ohnmachten oder Wutanfällen stattfinden, die mit Missempfindungen einhergehen.

Das wohl umstrittenste Krankheitsbild ist die "dissoziative Identitätsstörung", besser bekannt als "multiple Persönlichkeitsstörung". Dabei sind mindestens zwei unterscheidbare Teilidentitäten in einem Individuum vorhanden, die abwechselnd die Kontrolle über das Verhalten des Betroffenen übernehmen. Von diesen verschiedenen Persönlichkeiten ist jeweils nur eine nachweisbar. Diese haben keinen Zugang zu der Existenz oder den Erinnerungen der anderen.

Weiterhin gibt es "dissoziative Trancezustände", die mit dem Verlust des persönlichen Identitätsgefühls und der Umgebungswahrnehmung einhergehen, und "dissoziative Besessenheitszustände", bei denen der Betroffene überzeugt ist, von einer fremden Macht gesteuert und beherrscht zu werden. Beim selten vorkommenden "Ganser-Syndrom", ist das Vorbeireden und Vorbeiantworten des Betroffenen im Gespräch auffallend.

Zur Funktion dissoziativer Störungen gibt es verschiedene Erklärungsansätze. Gefühle und Erfahrungen, die der Betroffene nicht ertragen kann und/oder nicht in sein Selbstbild integrieren kann, werden abgespalten. Die Psyche versucht, sich mit dieser Strategie selbst zu schützen. Verhaltenstherapeutische Konzepte nehmen an, dass verschiedene Faktoren bestimmte Menschen für diese Störungen anfällig machen. Zu diesen Faktoren zählen eine genetische Disposition, eine erhöhte Suggestibilität und frühe traumatisierende Erfahrungen wie Vernachlässigung, Gewalt und sexueller Missbrauch. Dissoziationen ermöglichen es dem Betroffenen, extreme Belastungssituationen erträglich zu machen und zu verarbeiten. Ist der Betroffene wiederholtem Stress ausgesetzt, so etabliert sich im Lauf der Zeit ein Mechanismus, der automatisch abläuft und nicht mehr nur auf konkrete psychosoziale Belastungen als Auslöser reagiert.

Dissoziative Störungen werden häufig falsch diagnostiziert oder nicht erkannt, weil einerseits die Symptome denen neurologischer Erkrankungen und der Borderline-Störung stark ähneln und weil andererseits Dissoziative Störungen häufig mit anderen psychischen Störungen zusammen auftreten.

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