Trauma

  1. Trauma und EMDR
  2. Normale Funktion des Gehirns
  3. Veränderte Gehirnfunktion beim Trauma
  4. Folgen der veränderten Funktionsweise

4. Was sind die Folgen dieser veränderten Funktionsweise? 

 Um die Folgen der veränderten Funktionsweise besser begreifen zu können, ist die Unterscheidung zwischen explizitem und implizitem Gedächtnis sehr wichtig.

 Ich beschreibe zunächst den Ablauf der Gehirnfunktion bei einer Gefahrensituation, der sich bei Traumatisierten verfestigt.

 Traumatische Erfahrungen werden vor allem in den impliziten Gedächtnissen gespeichert, das explizite Gedächtnis im Neocortex bekommt leider nur Bruchteile von dem mit, was vor sich geht; die Entscheidungen während einer traumatisierenden Situation laufen meistenteils automatisch ab und lassen sich vom Verstand kaum noch steuern. Für den Betroffenen ist es wichtig zu wissen, dass dieses nicht mit dem Verstand beeinflusst werden kann, sondern durch einen biologischen Mechanismus automatisch abläuft. Bestimmte Hormone schalten die Funktionsweise des Gehirns vollkommen um. Im Gehirn läuft damit ein Prozess ab, auf den der Betroffene keinen Einfluss mehr hat. Verstandes-Entscheidungen und -Bewertungen sind in traumatisierenden Situationen für den Betroffenen nicht mehr möglich. Soweit Entscheidungen trotzdem stattfinden, haben sie kaum Einfluss auf das Geschehen, weil die Kontrolle von den impliziten Schaltkreisen übernommen wird. Dies erklärt auch die häufigen Berichte von Missbrauchten, dass sie sich völlig gegen ihren Willen verhalten haben.

 Weitere Auswirkungen dieses Geschehens bestehen darin, dass durch die Hormonausschüttung die Informationen teilweise nicht mehr vorgefiltert werden und uninterpretiert in einem mächtigen Strom in die Amygdala und die impliziten Gedächtnisse fließen. Die dadurch entstehende Reizüberflutung scheint zunächst einen Überlebensvorteil in einer gefährlichen Situationen zu haben: die impliziten Gedächtnisse suchen permanent nach Aus- und Fluchtwegen. Dazu werden alle Informationen aufgenommen, die erhältlich sind, auch scheinbar nebensächliche Details. Diese werden nicht vom Großhirn bewertet und interpretiert, sondern von den impliziten Gedächtnissen in roher Form verarbeitet und dort gespeichert.

Diese Zusammenhänge erklären die bei Traumatisierten häufig beobachteten dissoziativen Symptome: Das Nicht-Erinnerungsvermögen an Trauma-Situationen wird dissoziative Amnesie genannt. Die Abtrennung des Großhirns vom Nachrichtenfluss bewirkt, dass keine oder nur wenige sinngebenden Bewertungen vorhanden (bzw. physiologisch möglich) sind und auch kaum etwas im expliziten Gedächtnis gespeichert ist.

Da die impliziten Gedächtnisse zustandsabhängig arbeiten, werden die dort gespeicherten Informationen nach dem Ende der Lebensgefahr nicht mehr aktiviert; sie scheinen "vergessen" (Amnesie). Charakteristisch für die dissoziative Amnesie ist, dass bewertete und sinnvolle Informationen im Großhirn kaum bis gar nicht vorhanden sind und auch noch so starkes Nachdenken auf Verstandesebene nichts zu Tage fördern kann. Wer von dissoziativer Amnesie betroffen ist, weiß oft nicht von der Existenz des Traumas. Informationen in den impliziten Gedächtnissen werden dann wieder abgerufen (Flashbacks), wenn der Betreffende mit traumarelevanten Reizen z.B. durch einen Auslöser (Trigger) in Berührung kommt.

Die sowohl von Laien als auch von manchen Täter-Lobbyisten geäußerte und verbreitete Ansicht, dass man sich an so einschneidende Erlebnisse wie sexuellen Missbrauch unbedingt erinnern müsste, wird von der Trauma- und Dissoziationsforschung grundlegend widerlegt. Deshalb sollte immer bei vorhandener Amnesie überprüft werden, ob es sich um eine dissoziative Amnesie handeln könnte.

Symptome bei Traumatisierten als Folge der veränderten Gehirnaktivität

Bei einer PTBS oder anderen dissoziativen Störungen, die nach massiven Traumatisierungen auftreten, haben sich die oben beschriebenen Veränderungen der Gehirnfunktionen nicht mehr zurückgebildet, sondern implizites und explizites Gedächtnis sind voneinander abgekoppelt. Dabei spielt der Hippocampus eine entscheidende Rolle. Der Hippocampus ist unter anderem für die Koordinierung verschiedener Gedächtnisinhalte verantwortlich. Beispielsweise besteht die "innere Karte", die man von einer Stadt besitzt, aus zahlreichen Eindrücken, die auch zu unterschiedlichen Zeitpunkten gewonnen wurden. Im Hippocampus werden diese zusammengefügt und man kann sich orientieren. Der Hippocampus ist maßgeblich für die Orientierung in Zeit und Raum eine wichtige Schaltzentrale. Menschen, bei denen beide Hippocampi entfernt oder zerstört wurden, können keine neuen Erinnerungen formen und weisen somit eine anterograde Amnesie auf.

Bei traumabezogenen Trigger (z.B. Geruch von Aftershave) feuert die Amygdala, entkoppelt von Hippocampus, (Warn)Signale an das Bewusstsein (Cortex), d.h. Patienten haben Flashbacks und Intrusionen, die immer wieder auf gleiche Weise sehr emotional belastend abspulen. (Patient: "Ich rieche Aftershave, kriege Todesangst und stelle mich tot".) Wie schon erwähnt, ist der Vorteil dieser "primitiveren" Reizverarbeitung, dass sie sehr schnell abläuft, sofort Flucht-, Kampf- und Totstellreflex aktiviert und in einer tatsächlichen Gefahrensituation dem Überleben sehr nützlich ist, in der späteren Wiederholung aber bspw. bei einem Flashback keinen Sinn mehr macht.

Eine gelungene Traumatherapie hat diese Entkoppelung wieder rückgängig gemacht, also den Hippocampus wieder hinzugeschaltet. Das gelingt, wenn durch das Durcharbeiten der traumatischen Erlebnisse, eine zuvor nicht vorhandene Raum- und Zeitorientierung wieder etabliert werden kann. Bei chronischer Traumatisierung ist die Reizverarbeitung auf das besagte undifferenzierte Niveau (= implizites Gedächtnis) zurückgefallen, das den Betroffenen (nur) darin unterstützt, Entscheidungen zu treffen, die das Überleben betreffen. Es kann also nur noch mithilfe der Region des Mandelkerns zwischen gefährlich und ungefährlich unterschieden werden. Dementsprechend filtern solche Betroffene ihre Reize aus der Umwelt nach sehr undifferenzierten Kategorien, weil andere durch Abschaltung oder unzureichende Funktion des Hippocampus den Betroffenen nicht mehr zugänglich sind. Sie können nicht mehr entscheiden, ob das Gefährliche in der Vergangenheit oder in der Gegenwart liegt. Wenn ein Flashback kommt, fühlt sich eine durch einen Außenreiz ausgelöste Erinnerung so real an, als wenn das traumatische Ereignis gerade wieder passiert. (Der Traumafilm läuft ab.) Diese wichtige Fähigkeit der Unterscheidung muss erst wieder erlernt werden. Im o.g. Beispiel muss der Patient wieder lernen, dass der Geruch von Aftershave an und für sich nicht gefährlich ist. Nur damals zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort, als der Täter, der nach Aftershave gerochen hat, dieses und jenes gemacht hat, war die Situation für den Patienten gefährlich.

Sind entsprechende Lernprozesse in der Traumatherapie gelungen, sind die Betroffenen nicht mehr triggerbar, weil die Erinnerungen an das Trauma durch das Hinzuschalten des Hippocampus im Langzeitspeicher (explizites Gedächtnis) gelandet sind, wo sie, im Gegensatz zum impliziten Gedächtnis, kein Unheil mehr anrichten können. Eine Traumatherapie löscht keine Erinnerungen, diese werden aber spürbar weniger belastend durch die erstmalig etablierte Raum-Zeitzuordnung der belastenden Ereignisse - einhergehend mit der Verarbeitung von hochbelastenden Emotionen.