Magersucht 

  1. Magersucht
  2. Medizinische Aspekte
  3. Körperliche Reaktionen auf Magersucht
  4. Entstehung von Magersucht
  5. Zeitliches Auftreten von Magersucht
  6. Warum Frauen häufiger betroffen sind

5. Zeitliches Auftreten von Magersucht

  1. Warum tritt Magersucht oft zum ersten Mal in der Pubertät auf?
  2. Was hat die Suche nach Identität mit dieser Krankheit zu tun?
  3. Was läuft in der Entwicklung der Betroffenen falsch?
  4. Welche gesellschaftliche Zwänge spielen eine Rolle?

a) Warum tritt Magersucht oft zum ersten Mal in der Pubertät auf?

Die Magersucht entsteht bei Eintritt der Pubertät, weil die Schwelle zum Erwachsenwerden vor allem mit großen körperlichen Veränderungen einhergeht, die durch Hungern unterdrückt werden sollen. Niemand soll sehen, dass die Betreffende einen Busen oder breitere Hüften bekommen hat. Ein knabenhafter, kindlich gebliebener, also nicht weiblicher Körper wird als Ideal angestrebt.

Sheila MacLeod, eine ehemals Magersüchtige, hat ihre Krankheit und Heilung in ihrem Buch "Hungern - meine einzige Waffe" sehr anschaulich beschrieben. Ihr eigentliches Dilemma, aus dem sich ihr kein Ausweg zu öffnen schien, erkannte sie in einem Buch von Thomas Szasz, einem amerikanischen Psychiater, wieder. Sheila MacLeod fragte sich, warum gerade Magersüchtige diese besondere Art der "Rebellion" wählten, warum sie auf diese Weise Autonomie anstrebten. Die Antwort bei Thomas Szasz lautete, dass Magersucht kein psychisches sondern ein politisches Problem sei. Die Magersucht ist nach Szasz Ausdruck eines Ringens zwischen dem Individuum und anderen Personen, die Kontrolle über den eigenen Körper zu erlangen. Szasz fragt provozierend: "Wem gehört der Körper eines Menschen? Gehört er seinen Eltern, wie das weitgehend der Fall war, als er ein Kind war? Oder gehört er dem Staat? Oder dem Staatsoberhaupt? Oder Gott? Oder schließlich und endlich ihm selbst?" (MacLeod S. 85). MacLeoad dazu: "Ich hatte nichts. Ich war nichts. Positiver ausgedrückt erhielt ich das, was ich nicht wollte (was dem gleichkam, dass ich nichts erhielt), und wurde als die eingeschätzt, die ich nichts war (was dem gleichkam, als Nichts eingeschätzt zu werden). Meine einzige Waffe in dem Streben nach Autonomie war der Streik. […] Der Körper […] war das einzige was ich besaß, das einzige, was mir nicht genommen werden konnte."

b) Was hat die Suche nach Identität mit dieser Krankheit zu tun?

Die magersüchtigen Mädchen sind in ihrem Selbstkonzept sehr unsicher und leiden an ausgeprägten Selbstwertproblemen, die sie oft (nur) mit übersteigerter Leistungsbereitschaft kompensieren können. Sie orientieren sich an Äußerlichkeiten wie Figur und Leistungen, an denen sie ausschließlich Halt finden, weil sie im Inneren ohne eigentliche Substanz und Struktur sind und insgesamt eine leere Hülle darstellen.

Ziel einer Therapie ist, diese Patientinnen mit sich und ihren Bedürfnissen in Kontakt zu bringen, mit ihnen alternative Verhaltensweisen zu erarbeiten, wie sie selbstsicherer werden, ihr Selbstwertgefühl (wieder)erlangen und ein echtes eigenes Lebensziel, eigene Interessen, Selbstbestimmung erlangen können. Mit anderen Worten geht es darum, eine autonome Persönlichkeit zu werden.

c) Was läuft in der Entwicklung der Betroffenen falsch?

Innerhalb der Familien mit Essgestörten finden sich Verstrickungen und ungeklärte Beziehungen zueinander. Viele dieser Mädchen können sich nicht der Kontrolle und Bedürfnisse ihrer Mütter oder Väter entziehen. Sie wagen es nicht, sich abzulösen, sich weiter zu entwickeln und unabhängig zu werden. Der Grund ist, dass sie spüren, dies würde gegen die Familienregeln verstoßen und als "Verrat" angesehen. Eine allmähliche Ablösung von Mutter oder Vater wird oft mit großen Schuldgefühlen erlebt. Stattdessen zeigen sie sich überangepasst und brav und rebellieren heimlich durch Hungern und Essensverweigerung. Daneben bestehen ausgeprägte Kontaktstörungen vor allem zu Gleichaltrigen und zunehmende Isolierung mit Fortschreiten der Krankheit.

In vielen Familien mit Essgestörten sind Beziehungsprobleme zwischen Vater und Mutter ebenfalls der Grund, warum die Tochter krank wird. Das Symptom der Essstörung schweißt die Eltern zusammen und zieht die ganze Aufmerksamkeit auf sich. Die Eltern müssen sich nicht mehr aufeinander beziehen und die Probleme ihrer Beziehung lösen, sondern verbünden sich in ihrer gemeinsamen Sorge um ihre kranke Tochter. Damit hat diese erreicht, dass die Familie nicht auseinander bricht. Statt Klärung entsteht Konfusion, jeder fühlt sich für die Probleme des anderen verantwortlich, ohne sich auf seine zu konzentrieren.

In Familien von Magersüchtigen fehlen an entscheidenden Stellen die notwendigen Grenzen und es herrscht ein eindringliches Familienklima. Beispielsweise kann sich durch Mangel an Rückzugsmöglichkeit (keine Türe im Hause lässt sich abschließen) ein ausreichendes Gefühl von Ungestörtheit und Identität nicht entwickeln. Magersüchtige empfinden ihr Zuhause deshalb oft als einen Ort, an dem ihre Handlungen und Gedanken von allen Familienmitgliedern beobachtet werden. Es entsteht das Gefühl, dass die eigenen Gedanken und Gefühle den anderen ebenso gehören wie der Magersüchtigen selbst. Außerdem fehlt oft von Zuhause aus die Zustimmung, sich an einer Jugendsubkultur zu beteiligen und auf diese (spielerische) Weise erste unabhängige Identifizierungen zu ermöglichen. Die Familie steht an erster Stelle, andere soziale Aktivitäten sind unerwünscht.

Auch Grenzüberschreitungen von unangemessener Nähe bis hin zu sexuellem Missbrauch und körperlicher Gewalt können zu Magersucht führen. Ein Beispiel für unangemessene Nähe wäre es, wenn der Vater die Tochter wiederholt zu heftig und leidenschaftlich umarmt, so dass sich die Tochter als "heimliche Geliebte" des Vaters empfindet. In anderen Fällen werden Scham- und persönliche Grenzen übertreten, zum Beispiel indem der Vater nackt das Badezimmer betritt, in welchem die Tochter duscht und dies als völlig normal hingestellt wird.

In Familien mit Essstörungen findet man häufig eine weitere Übertretung von Grenzen, nämlich die Missachtung von Generationenschranken, wenn Mutter und Tochter zu "Freundinnen" werden. Die Mutter macht sich jünger als sie eigentlich ist, weil sie mit der Tochter mithalten möchte. Umgekehrt bespricht die Mutter ihre Partnerprobleme bis hin zu ihren Sexualproblemen mit ihrer heranwachsenden Tochter, die sie damit überfordert.

d) Welche gesellschaftliche Zwänge spielen eine Rolle?

In der Öffentlichkeit nimmt das Schlankheitsideal tatsächlich immer absurdere Ausmaße an. Models werden immer dünner, kränker und durchgedrehter. Trotzdem sind Verhältnisse innerhalb der Familie die wichtigste Ursache für Magersüchtigkeit.

"Die Familie", sagt der Familientherapeut Salvador Minuchin, "ist Nährboden für das Identitätsgefühl ihrer Mitglieder." Die Kleinfamilie stellt den günstigsten Nährboden für Magersucht dar. Sie ist abgeschlossen, kreist um sich selbst und ist eine eigene Welt. Die Eltern schreiben ihren Kindern oft Rollen und Eigenschaften zu. Zu unausweichlichen Problemen kommt es, wenn sich die Kinder mit diesen Zuschreibungen nicht identifizieren können. Welche Macht diese Festlegungen oder Botschaften haben können, wie zerstörerisch solche Festlegungen geradezu sein können, zeigt sich immer wieder bei Betrachtung vieler Fallgeschichten, bei der Betroffene an Magersucht erkrankt waren. Die Magersüchtigen bekamen in der Familie eine Rolle zugedacht und mussten diese spielen, das ganze Leben die gleiche Rolle.

Oder wie in einer Illustrierten zu lesen war: "Die Schönheitsdiktatur der Wohlstandsgesellschaft und Konsumkultur - wie sie sich auch im Ende der achtziger Jahre beginnenden Kult um die allgegenwärtigen Supermodels abzeichnet - muss mit Nebenwirkungen leben. Kollektive Dysmorphophobie (psychische Störung, bei der Betroffene befürchten, durch einen Defekt, der für andere entweder überhaupt nicht oder lediglich minimal erkennbar ist, stark entstellt zu sein) wird zur Massenpsychose. Der neue Frauentyp ist durchtrainiert und schlank. Kein Bauchansatz wölbt sich in der perfekten Silhouette. Die Brüste sind hoch und fest. In der athletischen Power- Frau realisiert sich das ästhetische Ideal des pubertierenden Mädchens, wiederholt sich das knisternde Rollenspiel der jungen Frau in Männerkleidern. Jetzt steckt sie im männlichen Körper, zeigt stolz ihre Muskeln. Mit immer neuen Diätversuchen und gezügeltem Essverhalten wird versucht, das Schlankheitsideal, das mit Attraktivität und Erfolgreich- sein gleichgesetzt wird, zu erreichen. Dieses ständig zwanghaft kontrollierte Essverhalten führt in vielen Fällen zu klinischen Essstörungen. Mit der Störung des Körperbildes geht der Verlust der Fähigkeit einher, Körperreize wahrzunehmen und das darauffolgende Versagen beim Deuten von Hunger. Die Störung des Körperbildes geht soweit, dass sie zur völligen Nichtbeachtung der schweren Abmagerung führt, die als ein vollkommen normaler Zustand betrachtet wird. Die Magersuchtpatientin identifiziert sich mit ihrem skeletthaften Erscheinungsbild und verleugnet, dass mit ihrer Figur etwas nicht in Ordnung sein könnte. Die Störung des Körperbildes geht soweit, dass Selbst- und Fremdeinschätzungen völlig auseinander klaffen. Patientinnen schätzen sich dick und aufgedunsen ein, während sie mehr und mehr abmagern."

In den westlichen Industriegesellschaften ist das Streben nach Schönheit, Schlankheit und Erfolg immer wichtiger und geht leider oft auf Kosten der zwischenmenschlichen Kontakte, die ebenfalls nur unter dem Leistungs- und Erfolgsaspekt gesehen werden. Hier steht die Frage in Vordergrund, was bringt mir dieser Mensch, und umgekehrt, was kann ich ihm bieten. Was auf der Strecke bleibt, sind menschliche Werte, die weniger mit Erfolgs- und Leistungskriterien messbar sind. Die Thematik des Wertens und des Selbstwertes wird in der Psychologie narzisstisch genannt. Der Begriff leitet sich aus der griechischen Mythologie ab, in der sich Narziss in sein eigenes Spiegelbild unglücklich verliebt. Narzisstische Menschen verzehren sich immerzu, ähnlich dem unglücklichen Narziss, ihrem Idealbild möglichst nahe zu kommen. Sie haben das Bedürfnis, ständig im Mittelpunkt zu stehen, für ihre Leistungen und Erfolge gelobt zu werden und Streben unentwegt nach immer mehr, ohne Erfüllung und Zufriedenheit zu erlangen. Magersucht und andere Essstörungen sind Zeitkrankheiten, die mit der Zunahme von narzisstischen Strukturen in der Gesellschaft ebenfalls zugenommen haben. Das Streben innerhalb der Gesellschaft nach unbegrenztem Wachstum, Reichtum und Erfolg hat sich auch auf die individuelle Entwicklung übertragen. Nie gab es so viele Suchtkranke wie heute, wie auch die süchtigen Esserkrankungen, die sich in ihren grenzenlosen Ansprüchen verlieren, statt sich zu finden. Ein wesentliches Merkmal von Sucht ist Kontrollverlust. Bei der Magersucht besteht die Unfähigkeit mit dem Hungern und Abnehmen aufzuhören, bei der Bulimie sind es das zwanghafte Überessen und Entleeren.

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